Förderverein St.Ulrich Heinrichs e.V.
Förderverein St.Ulrich Heinrichs e.V.

Johann Georg Tinius

geboren:

22. 10. 1764

gestorben:

24. 09. 1846

Pfarrer in Heinrichs:

1798-1810


 

"Bücherfreund"

Der Beitrag "Der mörderische Pfarrer Tinius" wird mit freundlicher Genehmigung von Frau Petra Hannebauer hier wiedergegeben.

Der mörderische Pfarrer Tinius

 

Im Hochsommer 1811 ist ein Viehhändler aus Querfurt mit dem Postpersonenwagen auf dem Weg nach Leipzig. Der starke, stattliche Mann trägt eine gut gefüllte Geldtasche umgeschnallt.
In Weißenfels, also schon kurz vor Leipzig, steigt noch ein einziger weiterer Passagier zu. Der redselige Viehhändler versucht fast sofort, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Aber der Fremde - der Kleidung nach vielleicht ein Beamter oder Lehrer - reagiert freundlich, jedoch äußerst wortkarg. Während also der Viehhändler redet, holt der neue Passagier seine silberne Schnupftabakdose heraus, schnupft eine Prise, dreht die Dose verstohlen um - als müsse er noch kurz überlegen, ob dies jetzt wirklich eine gute Idee ist - und bietet dann auch dem Viehhändler eine Prise an.
Der kontaktfreudige Mann nimmt dankend an. Bald darauf wird er merklich stiller, klagt über einen dumpfen Kopfschmerz sowie Schläfrigkeit. Der Fremde mit der silbernen Dose erwidert, dies läge bestimmt an der Sommerwärme, eine zweite Prise Schnupftabak würde seine Lebensgeister schon wieder erfrischen. Der Viehhändler ist zwar nicht wirklich überzeugt, aber um des lieben Friedens willen lässt er sich diese zweite Prise schließlich aufdrängen. Wenige Minuten danach fällt er schnarchend in tiefen Schlaf. An der nächsten Station steigt der Fremde mit der Schnupftabakdose aus. Der Viehhändler wacht erst an der Endstation Leipzig wieder auf. Entsetzt stellt er hier fest, dass seine Geldtasche verschwunden ist.

Die Polizei kann den Täter nicht ermitteln, ebenso wenig wie bei vier weiteren, ähnlichen Taten in Weißenfels und Umgebung im selben Jahr. Die Beschreibungen des Täters differieren, mal ist er schwarzhaarig, mal rot oder grau, trägt einen Vollbart, einen Schnäutzer oder gar keinen Bart, ist von der Kleidung her eher Förster oder Bauer. Aber immer hat er eine silberne Schnupftabakdose bei sich, und immer schläft das Opfer ein, kurz nachdem es von dem angebotenen Schnupftabak genommen hat.

 

Am 28. Januar 1812 ereignet sich dann in Leipzig selbst ein Raub mit Mordversuch. Der betagte Kaufmann Schmidt erhält an diesem Vormittag in seinem Haus in der Grimmaischen Gasse Besuch von einem Fremden. Dieser erklärt, er käme aus Hamburg, wolle aber eine größere Geldsumme in sächsischen Obligationen oder auch einem Landgut hier in dieser Gegend anlegen. Daher habe man ihm empfohlen, den Kaufmann Schmidt um Rat zu fragen, der kenne sich aus und hätte immer den richtigen Riecher in Geldangelegenheiten.
Derart geschmeichelt lässt Schmidt den Fremden in sein Haus. Er rät ihm zum Kauf von Leipziger Stadtobligationen, holt sogar auf Bitte des Besuchers ein solches Papier im Wert von 500 Talern aus seinem Schreibtisch und zeigt es vor.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs kramt der Fremde seine silberne Schnupftabakdose hervor. Er bietet dem Kaufmann hiervon an, Schmidt nimmt eine Prise und wird kurz darauf ohnmächtig. Als er wieder zu sich kommt, blutet er am Kopf. Der Fremde ist fort, 3 Kästen im Schreibtisch des Kaufmanns stehen offen und sind leer. Insgesamt fehlen Leipziger Stadtobligationen im Wert von 3000 Talern.
Schmidt lässt sich nur kurz von der Frau seines Hausbesorgers die Kopfwunde verbinden, dann eilt er fort, den Diebstahl sowie die Nummern der gestohlenen Obligationen anzuzeigen. Bald danach bricht er erneut zusammen.

Noch am selben Vormittag hat ein Mann die Leipziger Stadtobligationen im Bankgeschäft Frege in Leipzig umgetauscht in preußische, sächsische, braunschweiger und französische Louisdors [1] sowie Silbermünzen. Der Kunde hat die Münzen in aller Ruhe nachgezählt, so dass ihn die Angestellten ziemlich präzise beschreiben können. Er wirkte auf sie wie ein "modern gekleideter Landgeistlicher". Ähnlich beschreibt ihn auch die Frau von Schmidts Hausbesorger, die den Fremden bei seinem Weggang noch vor dem Haus in der Grimmaischen Gasse gesehen hatte.
Schmidt selbst ist zu krank und geistig verwirrt, um bei der Aufklärung des an ihm begangenen Verbrechens helfen zu können. Er stirbt schließlich am 6. April des Jahres an seinen Schädelwunden. Die Obduktion ergibt, dass ihm die Verletzungen durch einen spitzen Gegenstand, wahrscheinlich einen Spitzhammer, zugefügt wurden.

 

Fast genau ein Jahr nach diesem Raubmord, im Januar 1813 abends gegen 19 Uhr, klopft ein Mann am Privathaus des Amtmanns Hoffmann in Suhl. Er stellt sich als Herr Lange aus Leipzig vor und erklärt, der  Appellationsrat Gröbel aus Dresden habe ihn geschickt. Dieser beabsichtige, ein Landgut in der Umgebung Suhls zu kaufen. Doch vorher habe er ihn, Lange, gebeten, dieses Gut erst einmal zu besichtigen.

Doch der Amtmann hat gerade Besuch, und so muss der ungebetene Gast zunächst in der Gesindestube warten. Hier sitzen die Hausbediensteten, das Ehepaar Schlegel und die Witwe Heym, zusammen am Tisch. Kaum hat der Fremde den Raum betreten, beginnen die Frauen zu tuscheln: "Das ist ja der Magister Tinius, der früher in Heinrichs im Hennebergischen (in Thüringen) Pfarrer war und jetzt in Poserna bei Weißenfels das Predigeramt hat. Verändert ist er nur durch eine Brille."
Herr Schlegel fragt den Besucher schließlich direkt, ob er nicht Tinius heiße. Aber dieser verneint, "Wer ist denn der Tinius?". Frau Schlegel rückt die Lampe auf dem Tisch mehr in die Richtung des Gastes, um sein Gesicht noch besser erkennen zu können. Doch fast sofort bittet er sie, die Leuchte statt dessen weiter von ihm weg zu stellen, das Licht schade seinen empfindlichen Augen.
Dann beginnt er, die Hausangestellten auszuhorchen, wer noch im Hause wohne, ob es einen Hund gäbe. Als er hört, dass Hoffmann den Hund meist um sich habe, verlangt er, man möge das Tier wegsperren, solange er mit dem Amtmann rede. Er könne Hunde nicht leiden.

Endlich zu Hoffmann selbst vorgelassen, stellt sich der späte, ungebetene Gast wieder als Herr Lange aus Leipzig vor. Er wiederholt auch seine Geschichte von der Gutsbesichtigung, zur Bestätigung legt er einen Brief des angeblichen Appellationsrat Gröbel aus Dresden vor. Hoffmann lehnt ab, an diesem Abend schon gar nicht wegen der Dunkelheit, und momentan sei eine Besichtigung auch grundsätzlich kaum möglich, dazu liege zuviel Schnee.
Im weiteren Gespräch fragt auch der Amtmann den Besucher, "Sind Sie nicht Tinius?", was dieser diesmal zögernd einräumt. Bevor Hoffmann jetzt nachfragen kann, warum er sich denn dann als Herr Lange vorgestellt habe, bricht sein Gast eilig auf. Über Nacht bleiben wolle er nicht, nein danke. Wegen eines Termins zur Gutsbesichtigung würde er sich nach der Schneeschmelze wieder melden. Nur den Brief seines Auftragsgebers, des Appellationsrats Gröbel, den hätte er noch gerne zurück.

 

Im selben Monat erscheint Tinius dann bei einem Dömanenpächter[2] , der 2 Stunden von Poserna entfernt lebt. Angeblich will er sich bei dem Mann, den er schon lange und gut kennt, nach einem Gutsbesitzer erkundigen, der eine reiche Dame um ein Darlehen gebeten habe. Der Pächter lädt ihn ein, in seinem Haus zu übernachten.
Um Mitternacht schleicht sich Tinius ins Schlafzimmer seines Gastgebers. In der rechten Hand hält er einen spitzen Hammer, in der linken einen Nagel, über den linken Arm hat er einen Blumenkranz gehängt. Während er leise zum Bett schleicht, bellt draußen ein Hund. Dadurch wird der Pächter wach, erblickt Tinius, springt auf und packt ihn. Dabei schreit er ihn wütend an, nennt ihn einen Schurken, Räuber und Mörder. Tinius wehrt sich, er habe doch lediglich den Kranz über das Bett seines Gastgebers nageln wollen. Schließlich sei doch morgen dessen Geburtstag. Deshalb habe er den Hammer, den er sonst zu Hause oft zur Reparatur seiner Bücherregale benutzt, extra vor 2 Tagen in die Tasche seines draußen hängenden Mantels gesteckt.
Der Pächter findet diese Geschichte äußerst merkwürdig, er bleibt misstrauisch. Daraufhin verabschiedet sich Tinius noch vor dem eigentlichen Geburtstag seines Gastgebers mit den Worten "Sie haben mir doch recht weh getan." Beim Abschied trägt er schon seinen Matin [3] aus dunkelblauen, feinem Tuch, mit einem großen Kragen und hinten einem Schlitz zum Knöpfen.

Noch in derselben Nacht schleicht Tinius, das Gesicht verhüllt durch den großen Kragen seines Mantels, auch ins Haus seiner Schwiegermutter, der vermögenden Witwe Kindt. Als die Frau den vermummten Mann in ihrem Haus bemerkt, fragt wer er sei und was er hier wolle, herrscht dieser sie nur an, sie solle still sein. Aber sie läutet ihre Magd herbei. Erst da gibt sich Tinius zu erkennen. Was er aber so spät in der Nacht bei seiner Schwiegermutter zu suchen hat, das kann er natürlich nicht erklären. Nur aus Rücksicht auf ihre Tochter verzichtet die Witwe Kindt wohl auf eine Anzeige gegen den Mann, der ihr schon vorher zutiefst zuwider war.

 

Wenige Tage später, am 5. Februar 1813, betritt ein Mann im braunem Überrock ein Haus am Neuen Neumarkt in Leipzig. In der ersten Etage trifft er auf den Hausmeister. Der Unbekannte fragt nach der Hauseigentümerin Junius, aber diese ist nicht zu sprechen. Er erzählt dem Hausmeister, er sei Geistlicher und würde zu Ostern nach Leipzig ziehen. Also sei er auf der Suche nach einer Wohnung in der Stadt. Diese würde er gerne auch schon früher anmieten, denn wegen der Truppen, die das Land durchziehen, mache er sich Sorgen um seine Bibliothek. In der Stadt seien seine Bücher bestimmt sicherer untergebracht.
Dem Hausmeister kommt der Fremde sehr merkwürdig vor. Deshalb fertigt er ihn kurz ab, die Demoiselle Junius habe nichts frei.

 

Am 6. Februar taucht derselbe Fremde dann im Nachbarhaus auf. Diesmal trägt er einen dunkelblauen Matin aus hochwertigem Stoff und eine schwarze Mütze.
Im Treppenhaus begegnet er einer Bewohnerin des Hauses, der Frau des Kutschers Vetterlein. Anders als am Vortag fragt er nicht nach dem Hauseigentümer, Dr. Kunitz, sondern er gibt an, er suche Madame Kunhardt.
Die 75jährige Witwe wohnt in der vierten Etage. Dem Besucher scheint es schon unangenehm zu sein, dass Frau Vetterlein ihn die Treppen hoch begleitet. Oben angekommen, treffen die beiden dann auf Hanna, die Dienstmagd der Frau Kunhardt, und den Laufburschen des Bäckers, der gerade eine Lieferung Brot vorbeibringt.
Und jetzt ist der Unbekannte völlig irritiert. Er erklärt verlegen, er habe sich geirrt, suche doch eigentlich eine Frau Dr. Kunitz, dreht auf der Treppe um und geht die Stufen wieder hinunter. Aber er läutet nun nicht etwa unten bei Familie Kunitz, auf direktem Weg verlässt er das Haus.

2Tage später, am Morgen des 8. Februar, ist die Dienstmagd Hanna unterwegs, um einige Besorgungen zu machen. Bei ihrer Rückkehr findet sie die schwer verletzte Witwe Kunhardt vor. Die alte Dame blutet stark aus einer Wunde am Kopf. Bevor sie das Bewusstsein verliert, erzählt sie Hanna noch, ein fremder Kerl mit einem Brief habe sie so blutig geschlagen. Fast wundere sie sich, dass er ihr nicht auch noch die Kette vom Hals gerissen habe.
Die Schläge gegen Frau Kunhardts Kopf waren so heftig, dass ihr Schädel mehrfach zertrümmert ist. Alle Versuche der Ärzte, sie zu retten - einschließlich einer Operation am offenen Schädel - sind vergebens. Die alte Witwe stirbt 2 Tage nach dem Überfall im Krankenhaus.
Die Polizei findet neben Blutspuren im Eingangsbereich der Wohnung auch Wischspuren an der hellen Tapete, als sei jemand an der Wand entlang geschrammt. Der von der Witwe erwähnte Brief liegt auf dem Fußboden, es ist die Bitte um ein Darlehen in Höhe von 1000 Talern, unterzeichnet von einem Johann Gottfried Bröse aus Hohendorf.
Die Befragung der übrigen Hausbewohner ergibt, dass Frau Dr. Kunitz etwa 5 Minuten, bevor Hanna um Hilfe zu rufen begann, einen Mann gesehen hatte, der aus dem Haustor hinaus auf die Straße trat. Er trug einen dunklen Matin und eine schwarze Mütze. Der Mantel hatte einige helle Flecken, die er abzuklopfen versuchte.
Bei dieser Beschreibung erinnern sich Frau Vetterlein und auch Hanna sofort an den merkwürdigen Fremden, der 2 Tage vor der Tat nach Frau Kunhardt gefragt hatte. Hanna erzählt, sie habe direkt bei ihrem kurzen Zusammentreffen das Gefühl gehabt, den Mann von irgendwoher zu kennen. Und auch er habe sie erkannt, deshalb sei er so irritiert gewesen.
Inzwischen wisse sie auch wieder, wo sie den Besucher vorher schon gesehen hatte. Bei ihrem früheren Dienstherrn - obwohl studierter Magister, betreibt er eine Schankwirtschaft - sei er öfter Gast gewesen. Dabei sei er einige Male auch auf Hanna getroffen. "Ei, schönen guten Morgen, Köchin" habe er sie dann immer begrüßt.

Zunächst wird daraufhin der falsche Mann verhaftet, aber die Beschreibung passt auch auf Johann Georg Tinius. Und dieser hat vom 7. auf den 8. Februar bei seinem Magisterfreund übernachtet. Auch am 5. und 6. Februar sei er in Leipzig gewesen, hat er dem Schankwirt erzählt.


Daraufhin reist ein Gerichtsbeamter mit Hanna nach Poserna im Kreis Weißenfels, um Tinius zu befragen. Hanna ist sich sicher, dass dies der gesuchte Mann ist, aber er bestreitet, sie auch nur vom Sehen zu kennen. Höchstens sehe sie einer flüchtigen Bekannten aus Weißenfels ähnlich. Vielleicht seien sie also doch schon einmal aufeinander getroffen, aber gewiss nicht in Leipzig.
Diese Aussage - äußerst nervös und fahrig vorgetragen - klingt ziemlich unglaubwürdig. Außerdem ist dem Gerichtsbeamten aufgefallen, wie blass Tinius bei Hannas Anblick wurde. Zurück in Leipzig, erklärt er daher seinem Vorgesetzten, von Hannas Aussage und damit von der möglichen Schuld des Pfarrers überzeugt zu sein. Dies führt schließlich dazu, dass Tinius am 4. März 1813 verhaftet und als Beschuldigter im Mordfall Kunhardt nach Leipzig gebracht wird.

Seine kirchlichen Vorgesetzten staunen, dass der bis dahin unbescholtene Magister Tinius zu einer solchen Tat fähig sein soll. Aber sein Superintendent Schmidt in Weißenfels erklärt auch, der Pfarrer "sei ihm oft in einem rätselhaften Dunkel erschienen und habe auf ihn den Eindruck eines Adepten [4] gemacht." Seine Gemeinde in Poserna schätzte ihren Pfarrer sehr, allerdings wirkte Tinius auch einschüchternd auf sie mit seiner Gelehrsamkeit, seinem phänomenalen Gedächnis und fast schon enzyklopädischen Wissen. Äußerst nachdrücklich redete er den Gemeindemitgliedern immer wieder ins Gewissen. "Ich predigte so, wie ich eine mündliche Unterredung mit den Leuten zu halten pflegte, brauchte immer die Bibel, versinnlichte alle Abstractionen durch Bilder, und sprach aus dem Herzen und aus Erfahrung.", so Tinius selbst dazu.


Schmidts Vorgesetzter, der Superintendent Dr. Rosenmüller, ist es schließlich, der den Fall aufhellt: "Wir sehen an dem schrecklichen Beispiele dieses Mannes, wie unglücklich tief ein Mensch sinken kann, wenn er sich von einer einzigen Leidenschaft beherrschen lässt. Seine Lieblingsneigung schien, an sich betrachtet, unschuldig zu sein. Er wünschte eine zahlreiche Büchersammlung zu besitzen, mit den angesehensten Gelehrten in Bekanntschaft zu kommen und sich dadurch Ruhm und Ehre zu erwerben; hierzu wurde aber weit mehr Aufwand gefordert, als er mit seinem Vermögen aufbringen konnte; weil er seinen Zweck nicht durch regelmäßige Mittel bestreiten konnte, so verfiel er auf den unseligen Gedanken, ihn durch List, Betrug und die größten Verbrechen zu erreichen. Durch Stolz und Eitelkeit verblendet, unterdrückte er alle Regungen des Gewissens und stürzte sich in den tiefsten Abgrund des Verderbens."


Tinius ist ein besessener Büchersammler, ständig auf der Suche nach neuem Lesestoff. Im Laufe seines Lebens wurde diese Leidenschaft zur Manie, er kauft nicht mehr nur einzelne Bücher, sondern gleich ganze Bibliotheken. 60.000 Bände hat er am Ende zusammen gesammelt. Und bald ist er nicht mehr interessiert an einfach irgendwelchen Büchern, es müssen Bibliotheken sein, die möglichst viele seltene, außergewöhnliche Bände enthalten. So brüstet er sich z. B. damit, dass sich die Bibliothek des berühmten Theologen Nösselt aus Halle inzwischen in seinem Besitz befinde, inklusive einiger seltener Bibelausgaben und Originalbriefe Luthers. Um sicher zu sein, diese Sammlung zu erhalten, hatte er den Erben damals 400 Taler mehr geboten als der preußische König.
Noch kurz vor seiner Verhaftung hat er von einer seiner regelmäßigen Reisen nach Leipzig eine andere seltene Originalausgabe für allein 365 Taler mitgebracht.

Mit seiner Büchersammlung wächst auch Tinius' Bekanntheit in der Fachwelt, immer öfter finden Wissenschaftler und Forscher den Weg nach Poserna in seine Bibliothek. Tinius sonnt sich in ihrem Glanz. Er schient zu glauben, er steht automatisch mit ihnen auf einer Stufe, wenn er nur genügend Bücher besitzt, die auch wissenschaftlich interessant sind.
Wiederholt spricht er mit diesen Besuchern auch über seine eigenen Forschungen. Doch das wenige, das er dann tatsächlich veröffentlicht, enttäuscht die Fachleute. Er reiht lediglich Fakten aneinander, zitiert die Ergebnisse anderer Wissenschaftler, zu eigenen Erkenntnissen kommt er dabei nicht. Seine letzten theologischen Bücher, die er erst im Gefängnis verfasst, sind auch nur insofern interessant, als dass er nun ja keinen Zugriff auf seine Bibliothek mehr hat, er also alles aus dem Gedächnis rezitiert.

Es ist nicht überliefert, was Tinuis' erste Frau zu seiner Büchersucht sagte, aber seine zweite Ehefrau, zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens eine vermögende Witwe mit 3 Söhnen, ist alles andere als beigeistert. Tinius quartiert sie mit den insgesamt 4 Kindern (eine Tochter stammt aus seiner ersten Ehe) im Erdgeschoss des Pfarrhauses in Poserna ein, das viel geräumigere Obergeschoss gehört allein ihm und seinen Büchern.
Schnell muss sie auch erkennen, dass Tinus sie wohl nur geheiratet hat, weil er ihr Vermögen gut gebrauchen kann, um seine Sammlung weiter aufzustocken. Bald hat er ihr Geld komplett ausgegeben.
Klar ist, dass er seine anhaltende Sucht nach immer neuen, besonderen und damit auch teuren Büchern auf Dauer nicht allein aus seinem Einkommen als Priester weiter finanzieren kann - obwohl er seine Familie und auch sich selbst in allen anderen Dingen so knapp hält wie nur irgend möglich.
So wird Tinius schließlich zum Verbrecher. Zunächst unterschlägt er Kirchengelder. Dann beginnt er, sich nach vermögenden Menschen aus der Region zu erkundigen, ihre Lebensverhältnisse auszuforschen, darüber nachzusinnen, wie er sich in den Besitz ihres Geldes bringen könnte.

 

Fast genau ein Jahr nach seiner Verhaftung, am 26. März 1814, beschließt das Schöffengericht in Leipzig, "dass wider Tinius der (kirchlichen) Inquisition gebührend zu verfahren sei." Da er bis jetzt kein Geständnis abgelegt sowie seine Tat ernsthaft bereut hat, wird er von der Kirche aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen und öffentlich seiner  geistlichen Würden enthoben. Am 31. März wird er in der Nikolaikirche offiziell an das weltliche Gericht übergeben. Bei dieser Gelegenheit muss er in aller Öffentlichkeit sein priesterliches Ornat abgeben, es ist ihm von nun an verboten, sich je wieder im Priesterrock zu zeigen.

Ein Geständnis legt Tinius bis zum Ende der gerichtlichen Untersuchung nicht ab. Dabei sind die Indizien gegen ihn mittlerweile ziemlich erdrückend. In seinem Haus in Poserna findet man 2 Hämmer, von denen einer genau zu den Kopfwunden der Witwe Kunhardt passt. Dieser Hammer ist eingewickelt in ein Tuch mit bräunlichen Flecken, wie sich herausstellt Blutflecken. Weiter findet man den dunkelblauen Matin, den verschiedene Zeugen beschrieben haben. Nur die Knöpfe hinten am Schlitz sind inzwischen abgetrennt.

Schließlich zu dem Brief, den der Mörder in der Wohnung der Kunhardt zurückgelassen hat: Dieser Brief wurde von einem Johann Gottfried Bröse aus Hohendorf unterzeichnet, der weitere Brief, den Tinius beim Amtmann Hoffmann in Suhl vorgelegt hatte, von einem Appellationsrat Gröbel aus Dresden.
Beide Männer existieren nicht, es gibt in Tinius Umfeld andere Personen mit den Namen Bröse und Gröbel, doch diese sind definitiv nicht die Verfasser der Briefe. Bei der Hausdurchsuchung in Poserna wird das Schreiben des angeblichen Appellationsrat Gröbel nicht gefunden, dafür aber eine ganze Sammlung ähnlicher Briefe, die als Vorwand für einen Besuch bei einer wohlhabenden Person dienen konnten. Die Briefe sind mit verschiedenen Namen unterzeichnet, bei einigen ist offensichtlich, dass er auch diese Namen phantasielos aus seinem Bekanntenkreis oder aus seinen Büchern entliehen hat. Die in diesen Briefen angegeben Adressen der angeblichen Absender sind nachweislich falsch. Doch die Handschrift ist immer identisch: Die Handschrift des Pfarrers Tinius, ebenso wie bei dem Brief, der in Leipzig zurückblieb.

Tinius schweigt zu allen Vorwürfen in diese Richtung. Ansonsten bleibt er bei seinem Leugnen. Seine Unschuld versucht er zunächst durch ein Alibi für den Zeitpunkt des Überfalls auf die Witwe Kunhardt zu beweisen. Doch immer wieder werden in seinen Angaben Ungereimtheiten entdeckt, und jedes Mal ändert er bald darauf seine Geschichte. So will er zuerst beim Buchhändler Liebeskind, dann doch beim Antiquar Rau und am Ende im Museum gewesen sein - oder doch bei Liebeskind?
Auch Tinius selbst ist klar, dass er so keine Zweifel an seiner Schuld wecken kann, sondern im Gegenteil eher weitere Anhaltspunkte für die Anklage liefert. Deshalb versucht er bald, weitere Zeugen durch Briefe, die er aus dem Gefängnis schickt, direkt zu beeinflussen. In diesen Briefen versucht er die Adressaten zu überzeugen, dass seine Verhaftung zu Unrecht erfolgte, alle Anschuldigungen gegen ihn falsch sind und jetzt immer neue Beweise konstruiert würden, nur damit die Justiz ihren Fehler nicht zugeben müsse. Deshalb möge der Zeuge sich bitte auf keinen Fall von seiner Aussage abbringen lassen, die ja wohl nur so und so lauten könne.
Einige dieser Briefe kann Tinius tatsächlich unentdeckt aus dem Gefängnis schmuggeln lassen, aber die meisten werden von den Wärtern abgefangen. Und mit einem dieser Briefe stellt er sich dann fast selbst ein Bein. Tinius äußert nämlich seine Befürchtung, diese Versuche, ihm etwas anzuhängen, könnten demnächst noch eine Steigerung finden, "sollte etwa die Schmidtsche Geschichte mit hineingezogen werden." Nur, mit dem Mord am Kaufmann Schmidt Anfang 1812 in Leipzig (und somit indirekt auch mit den Überfällen zuvor auf Postkutschenpassagiere) hatte ihn bis dahin noch niemand in Zusammenhang gebracht.
Jetzt aber wird selbstverständlich auch in diese Richtung ermittelt. Der Spitzhammer, der in Tinius Haus in Poserna gefunden wurde, stimmt überein mit der Beschreibung, die der Arzt damals anhand der Verletzungen von der Tatwaffe geliefert hatte. Es kann bewiesen werden, dass Tinius in den Wochen nach dem 26. Januar 1812 mit Louisdors bezahlt hat, und zwar Waren für mindestens 611 Louisdors, also etwa 3000 Taler - natürlich überwiegend Bücher. Aber die Angestellten des Bankhauses Frege können, genau wie Schmidts damalige Hausbesorgerin, nur die Ähnlichkeit des Pfarrers mit dem Fremden bestätigen - zu wenig, um Tinius auch dieses Mordes überführen zu können.

Damit sind die Ermittlungen gegen Tinius soweit abgeschlossen und der Prozess könnte beginnen, doch politische Verwicklungen führen zu einer längeren Verzögerung. Denn 1815 fällt halb Sachsen, auch Poserna, an Preußen. Also sind jetzt preußische Gerichte für den Fall Tinius zuständig, das gesamte vorprozessuale Prozedere beginnt von vorne.
 In erster Instanz wird der ehemalige Pfarrer schließlich am 20. Februar 1820 zu 18 Jahren Zuchthaus wegen Raubmords an der Witwe Kunhardt verurteilt, "wo die allerdringendsten Verdachtsgründe vorhanden wären, wo so viele Anzeichen zusammenträfen und miteinander übereinstimmten, durch den schlimmen Charakter der Verdächtigungen unterstützt und durch Gegengründe nicht entkräftet würden, wo die Gewißheit der Täterschaft nur infolge beharrlichen Leugnens und des Mangels an vollständigen Beweismitteln nicht erlangt werden könne, derjenige Grad an Wahrscheinlichkeit vorhanden sei, welcher nach preußischen Gesetzen eine außerordentliche Strafe rechtfertige, die nach den Strafbestimmungen über den Raubmord bemessen sei."
Zusätzlich bekommt er noch weitere 2 Jahre wegen der Unterschlagung der Kirchengelder. Im Fall Schmidt wird er aus Mangel an Beweisen vorerst freigesprochen.

Tinius ist empört über dieses Urteil, er legt Berufung ein. Auch in dieser zweiten Verhandlung am 25. Januar 1823 bleibt er seiner Linie treu, er leugnet weiter vehement jede Schuld. Doch auch diesmal lautet das Urteil auf schuldig. Allerdings wird das Strafmaß für den Raubmord auf 10 Jahre herab gesetzt, da der Angeklagte bis zu diesem nun endgültig rechtskräftigen Urteil bereits 10 Jahre in Haft gesessen hat.
Seine Frau wartet dieses Urteil des Appellationsgerichts gar nicht erst ab. Schon nach dem ersten Prozess hat sie sich von Tinius scheiden und seine Bibliothek 1821 öffentlich versteigern lassen. Bei der Erstellung des Versteigerungskatalogs - am Ende 809 Seiten - wird deutlich, dass seine Sammlung nur wenige echte Raritäten enthält. So reicht der Erlös schließlich gerade aus, die aus seinen Bücherkäufen noch offenen Schulden zu decken.

Der ehemalige Pfarrer Tinius ist ein mustergültiger Gefangener. Aber auch im Zuchthaus spielt er weiter den unschuldig Verfolgten, leugnet seine Taten und zeigt logischerweise auch keinerlei Reue. Da er darüber hinaus jedoch auch jegliches Mitgefühl mit den Opfern seiner Taten vermissen lässt, wird er trotz seines hohen Alters nicht vorzeitig begnadigt, er muss die insgesamt 12jährige Strafe bis zum letzten Tag absitzen.
So kommt Tinius erst im Jahre 1835 als mittlerweile 72jähriger Greis wieder frei. Alle Ortschaften, in denen er vor seiner Inhaftierung gelebt und gearbeitet hatte, verweigern ihm das Heimrecht. Auch seine gesamte Familie hat sich längst von ihm losgesagt. Eine Weile lebt er sogar im Armenhaus, denn er hat nur noch 25 Taler im Jahr zur Verfügung. Diese kleine Rente muss ihm seine letzte Pfarrgemeinde zahlen.
Erst 1840 erbarmen sich dann doch noch einige Verwandte des schwarzen Schafs der Familie, sie nehmen ihn auf in ihr Haus in Graebendorf bei Königwusterhausen. Hier lebt Tinius bis zu seinen Tod am 24. September 1846. Er legt eine streng orthodoxe Frömmigkeit an den Tag, besucht auch jeden Sonntag die Kirche, ohne jedoch auch nur ein einziges Mal am Abendmahl teilzunehmen.
Bis zuletzt zeigt er weder Reue noch auch nur Mitgefühl mit seinen Opfern. Lediglich den Verlust seiner Bibliothek, durch den er sich um den Sinn seines Lebens gebracht sieht, beklagt er regelmäßig.

 

Im Gefängnis vollendet Johann Georg Tinius seine Autobiographie, die noch im Jahr 1813 erscheint. Mit keinem Wort geht er hierin auf die Vorwürfe gegen ihn oder auch nur ganz allgemein auf die letzten Jahre vor seiner Verhaftung ein. Seine Schilderungen zielen ausschließlich darauf ab, ihn als äußerst gottesfürchtigen, ehrbaren Menschen darzustellen, der sein Leben vollkommen der Religion, dem Lernen sowie dem Lehren gewidmet hat.
Kurzum: Dieser Mann ist fast zu gut für diese Welt, viel zu gläubig und ehrlich, als dass er zu einem Verbrechen fähig sein könnte, viel zu fleißig und belesen, als dass er seine eventuellen finanziellen Probleme nicht eleganter als durch Raub und Mord lösen könnte. Diese Unterstellungen sind viel zu unglaublich, als darauf eingehen zu müssen.

Ausführlich beschreibt Tinius zunächst seine Kindheit:

Geboren wird er am 22. Oktober 1764 als Ältester von insgesamt 9 Geschwistern im sächsischen Staako in der Niederlausitz, wo sein Vater - Johann Christian Tinius - zu dieser Zeit als Aufseher über die königlich preußischen Schäfereien arbeitet.
Der Großvater träumt insgeheim davon, dass sein erstgeborener Enkel später einmal Pfarrer wird. Deshalb bringt er ihm schon früh alle wichtigen Gebete bei. Will das Kind diese Gebete nicht mitsprechen, 'hilft' seine Mutter mit der Rute nach - nicht dass sie den Wunsch des Großvaters teilt, aber genau wie ihr Mann ist sie tief gläubig und der Meinung, beten könne man nicht früh genug lernen.
Der strenge Vater besteht darauf, seine Kinder selbst zu unterrichten, "statt nach einer schlechten Schule die Zeit zu verlaufen." Er bringt seinen Kindern in Grundzügen das Lesen bei, danach muss Johann Georg als Ältester unter Aufsicht der Mutter mit den Geschwistern weiter üben. Dabei sind als Lesematerial lediglich die Bibel, eine christliche Postille, Luthers Katechismen sowie 2 Gesangsbücher vorhanden und vom Vater erlaubt. So haben alle Kinder der Familie schon in frühen Jahren die komplette Bibel gelesen und können sie in Teilen sogar auswendig.

Auch ansonsten legt der Vater viel Wert auf eine christliche Erziehung. "Nach dem Aufstehen war ordentliche Musterung; Waschen, Haarkämmen, und eine halbe Betstunde vor dem Tische, nebst Morgengesang. Dann erst kam es zum Frühstücken. Dasselbe geschah auch Abends vor dem Schlafengehen. Die Tischgebete waren etwas lang und feierlich in Verbindung mit Knechten und Mägden."
Aber die Eltern predigen ihren Kindern ihre Ideale nicht nur immer wieder, sie leben sie ihnen auch stets vor: "Nie habe ich von meinen Eltern ein böses Wort gehört, nie ein böses Beispiel gesehen. Ehrlichkeit bis auf den Heller, Verträglichkeit ohne Ende, Geradheit und Wahrheitsliebe, Thätigkeit und Geduld, nebst einer ungezwungenen Gottesfurcht werden uns von ihnen unvergängliche Schätze bleiben."
Das Leben bestand aus Gebeten, fleißiger Arbeit sowie Mäßigung. Karges Essen und ein Bett aus hartem Stroh sollen die Kinder früh an die Härte des Lebens gewöhnen. Alle Kinder wachsen in dieser Umgebung zu starken, gesunden Naturburschen bzw. -mädchen heran, nur Johann Georg selbst bleibt schmächtig und ist regelmäßig krank. Er selbst führt das darauf zurück, dass er in seiner frühen Kindheit bis zum Tod seines Großvaters von diesem zu sehr verwöhnt worden war.

Die Eltern besuchen jeden Sonntag die Kirche, aber ihre Kinder sollen bis zu ihrem 12. Lebensjahr weder einen Schulmeister noch einen Pfarrer erleben - "nach dem Beispiel Jesu."
Als Johann Georg dann 13 Jahre alt wird, zieht die Familie, die in den letzten Jahren in Wasserburg gelebt hat, zurück in seinen Geburtsort Staako. Hier soll ihr ältester Sohn konfirmiert und damit in die Kirche eingeführt werden.

Der zuständige Pastor Starke hat zunächst Bedenken, denn die übrigen Konfirmanten werden bereits seit 4 Wochen im Unterricht auf das Ereignis vorbereitet. Diese 'Vorbereitung' bestand fast ausschließlich im auswendig lernen eines Katechismus. Johann Georg entgegnet, was die anderen bis jetzt gelernt hätten, würde er noch am selben Nachmittag komplett nachholen. Und zum maßlosen Erstaunen des Magisters Starke kann er am Abend tatsächlich alle bis jetzt behandelten Seiten des Katechismus auswendig aufsagen - obwohl dieser nicht zum im Elternhaus vorhandenen Lesematerial gehörte.
Diese Fähigkeit, viel in kurzer Zeit auswendig zu lernen, muss man wohl anerkennen, aber ob man dabei so weit gehen sollte wie Starke? Der jedenfalls sieht in dem Jungen ab jetzt einen Fingerzeig Gottes. "Euren Sohn hat Gott zu etwas anderem bestimmt, er soll Menschenheerden weiden!" bekniet er die Eltern. Diese sind zwar stolz auf ihren Ältesten, reagieren zuerst aber ablehnend. Die Mutter aus rein wirtschaftlichen Gründen, ein Studium ist teuer und bringt zunächst nichts ein, außerdem seien sie auf die Arbeitskraft ihrer Kinder in der Schäferei angewiesen. Der Vater zeigt sich noch ablehnender, da er zusätzlich "eine Abneigung gegen alles Vornehme" hat.
"Allein Herr Magister Starke ließ nicht nach, und versicherte meinen Eltern, es solle ihnen mein Studieren keinen Heller kosten; es studierten ja viele Arme. Nun überließen es meine Eltern mir, und ich glaubte meinem neuen Führer." Verständlich, dass Johann Georg die Überzeugung des Pastors Starke nur zu gerne teilen möchte: Er ist zu etwas Besonderem berufen, er soll studieren.
Die folgenden beiden Jahre lebt Johann Georg Tinius bei Starke, lernt bei ihm "ein wenig Schreiben, und von der lateinischen Sprache die Anfangsgründe" - nicht viel also für volle 2 Jahre. Doch der Pastor ist weiter von den Fähigkeiten des Jungen überzeugt, und so bringt er den bald 15jährigen im September 1779 nach Luckau auf die gleiche Schule, die auch Starkes einziger Sohn Adolph besucht. Der Magister zahlt für Tinius Kost und Logis, im Gegenzug soll dieser Adolph Starke "durch die Kohlen meines feurigen Eifers im Lernen anzünden.".
Dies scheint zunächst auch funktioniert zu haben, doch dann verlässt Adolph Starke Luckau, um seine Studien an größeren, renommierteren Schulen in Lübben und später in Cottbus fortzusetzen.

Ab jetzt ist es Vater Starke nicht mehr möglich, von seinem geringen Einkommen als Pastor auch noch die Ausbildung des jungen Tinius zu bezahlen. Ausführlichst schildert dieser in seiner Autobiographie nun sein Glück in den folgenden Jahren, als sich immer neue Gönner und Förderer finden, die ihn - obwohl zum Teil selbst alles anderes als wohlhabend - mit freier Logis oder kostenlosem Essen unterstützen. Das Wenige, das er sonst noch zum Leben braucht - überwiegend Kleidung sowie sie notwendigen Schulbücher - verdient Tinius sich mit verschiedenen Arbeiten hinzu. Aber nur Dank seiner Förderer kann er seine Schulausbildung in Luckau nach 9 Jahren erfolgreich abschließen und anschließend ein Studium in Wittenberg beginnen.
Viele dieser Gönner werden namentlich erwähnt. Immer wieder betont Tinius, was für gute Menschen sie doch sind, "edle Seelen", "am Verstande und Herzen von Gott gesegnet", "ein wahrer Christ, und durchaus rechtschaffener Mann."
Trotz der vielfältigen Unterstützung lebt Tinius natürlich nicht in Saus und Braus, er kommt gerade so über die Runden. Wiederholt stellt er die positiven Seiten Aspekte dieser seiner Situation heraus. "An verführerischen Beispielen aller Art hat es mir nicht gefehlt; aber ich war zu Hause gegen das Böse zu vest verwahrt worden, und meine Armuth nöthigte mir gleichsam eine gute Aufführung ab, sonst hätten meine Gönner ihre Hand von mir abgezogen."
Fast schon nach Selbstbeweihräucherung klingt er an einer anderen Stelle: "In Wittenberg führte ich ein sehr eingezogenes Leben. Man giebt sonst solchen Studenten Beinamen, und sie werden von den Lebemännern, wie man glaubt, nicht sehr geachtet. Allein ich habe erfahren, daß Einsamkeit als solche, nicht die Quelle der Geringschätzung wird, wenn nur andere Quellen der Hochschätzung nicht verstopft sind; Fleiß, gute Aufführung, Kopf und gutes Betragen gegen die Brüder, erwerben mehr Achtung, als die Theilnahme an vielen öffentlichen Gesellschaften und Lustbarkeiten. Die Armuth ist die beste Schutzschrift gegen solche Zumuthungen; man denkt, dieser ist ein armer Schelm und kann nicht mitmachen, und dieser Gedanke erzeugt ein Gefühl des Bedauerns, welches sogar Achtung erwirbt."
Auch seine Mitstudenten und Lehrer zieht er in diese Selbstbelobigung mit ein: "An meinen studierenden Mitbrüdern habe ich damals vielen Fleiß, und an den meisten ein gesittetes Leben gesehen, wobei nicht blos negative Ursachen, Mangel an Luxus und vieler Gelegenheiten zur Zerstreuung, Eingeschränktheit der Volkszahl und der höhern Stände, oder Abwesenheit sehr reicher Studenten, und die Gewohnheit, sich dort mehr Zucht gefallen zu lassen, sondern auch positive zum Grunde lagen, wohin ich die große Achtung für die damaligen Hauptlehrer auf der Universität rechne, die gelehrt und thätig waren; wo schon der Gedanke, solche Männer nicht beleidigen zu sollen, Ehrfurcht, und Ehrfurcht Ehrbarkeit erzeugte."
So versucht Tinius also den Feuereifer zu erklären, mit dem er sich auf seine Bücher stürzt. Doch wahrscheinlich beginnt spätestens hier seine Büchersucht, denn seine Interessen sind inzwischen breit gefächert, gehen weit über die Notwendigkeiten eines Studiums der Theologie hinaus. Er liest alles, was er in die Finger bekommen kann, am liebsten über "Geschichte aller Art; Philosophie; Moral; Exegese [5] in den heiligen und profanen Schriftstellern."

Aber auch einen weniger rühmlichen Vorfall aus seiner Zeit in Wittenberg erwähnt Tinius, wenn auch nur in einem einzigen Satz: Er verdient sich etwas hinzu als Privatlehrer für die Söhne eines seiner Förderer. Allerdings wünscht dieser Gönner, dass Tinius sich hierbei als studierter Magister ausgibt, "um des Ansehens willen bei den Kindern." Tinius geht widerspruchslos auf diese Bedingung ein, er denkt an seine Zukunftspläne, daran, dass ihm dieser einflussreiche Mann vielleicht auch später noch nützlich sein könnte.
Auch wenn er in seiner Autobiographie so tut, als sei dies vollkommen normal, es wirft doch ein etwas seltsames Licht auf den Mann, der in seiner Schilderung doch so durch und durch rechtschaffen-korrekt erscheinen möchte: Der ehrenhafte Johann Georg Tinius gibt sein Ideal von der Ehrlichkeit ohne Zögern für einen möglichen persönlichen Vorteil auf, tritt quasi als Hochstapler vor die Kinder seines Mäzens.

Auch ein zweiter Punkt wirft Fragen auf:
Wegen einer schweren Lungenerkrankung muss Tinius auf dringenden ärztlichen Rat hin im Winter 1791 sein Studium unterbrechen, die Stadt verlassen und aufs Land ziehen. Welch glücklicher Zufall, dass ihm genau zu diesem Zeitpunkt eine neue Stellung als Privatlehrer in Casel bei Luckau angeboten wird. Sein ursprünglicher Plan ist es, möglichst bald nach seiner vollständigen Genesung nach Wittenberg zurückzukehren, um dort sein Studium zu beenden. Unklar bleibt allerdings, warum er diesen Plan urplötzlich aufgibt, statt dessen alleine in Casel für seine Prüfungen lernt und schließlich nach Dresden reist, wo er am 4. Oktober 1793 erfolgreich sein Examen zum Magister in Theologie ablegt.
Lediglich mit "in Wittenberg veränderten sich hernach die Umstände" versucht er zu erklären, warum er nicht wenigstens seine Prüfungen in der Stadt ablegt, in der er doch angeblich wegen seiner Begabung und seines Fleißes so beliebt und angesehen bei seinen Professoren war.
Wer Tinius' Geschichte kennt, fragt sich: Ist auch in Wittenberg schon etwas vorgefallen, hat er vielleicht bei seiner Abreise einige wertvolle Bücher der Universität mitgehen lassen? Ist man ihm inzwischen auf die Schliche gekommen, hat aber vereinbart, die Sache nicht anzuzeigen, also nicht öffentlich publik zu machen, wenn Tinius nur alle Bücher der Universität zurückgibt und sich danach nie wieder in Wittenberg blicken lässt? Auffällig ist jedenfalls, dass von seinen Wittenberger Freunden, Förderern und einflussreichen Gönnern nach seinem Weggang aus der Stadt nichts mehr zu hören ist. Lediglich von einigen Unterstützern aus seiner Zeit in Luckau ist ab und zu noch die Rede.

So findet er denn auch - trotz seines Einser-Examens - zunächst keine Anstellung als Priester. Und das, obwohl er doch zuletzt wiederholt für den erkrankten Ortspastor in Casel eingesprungen ist, die Leute dort angeblich so vollauf begeistert von seinen Predigten sind, dass es sogar zu Ausschreitungen wütender Gemeindemitglieder kommt, als ein anderer als Tinius zum neuen Pastor berufen wird.
Also arbeitet er zunächst weiter als Lehrer, erst wieder in Casel, dann in Dresden und ab 1795 am Gymnasium in Schleusingen im Hennebergischen. "Ich vermuthe, daß ich nie wieder schönere Jahre meines Lebens erleben werde, als diejenigen waren, wo ich Jünglinge zu Zuhörern hatte, welche glaubten, ich sage ihnen das Wahre und Nützliche nach meiner Ueberzeugung, und verdiene ihren Dank für meine Bemühung. Ich hatte keine Verantwortung, als die, welche mir mein Gewissen auferlegte, und war übrigens ein freier Mann, das heißt der glücklichste auf Erden. Nach diesen heiteren Tagen fiel das Wetterglas meines Lebens nicht blos bis auf veränderlich, Wind und Regen, und vielen Regen, sondern häufig bis auf Sturm."
Dies sagt er, obwohl er nun eigentlich endlich am Ziel seiner Träume angekommen sein müsste: Im Jahr 1798 wird das Pastorat in Heinrichs im Hennebergischen vakant, Tinius bekommt dieses Pfarramt angeboten. Er nimmt schließlich auch an, allerdings nicht aus eigenem Antrieb, er muss überredet werden. Den Ausschlag gibt schließlich "die öftere Erinnerung von Seiten meiner Eltern, daß ich mein Studieren endlich doch durch ein geistliches Amt krönen möchte." Wäre er einfach nur seinem eigenen Herzen gefolgt, er hätte vielleicht bis ins hohe Alter glücklich und zufrieden als Gymnasiallehrer gearbeitet, umgeben von gebildeten Kollegen, mit denen er des öfteren bis in den späten Abend fachsimpelte, jugendlichen Schülern, die bewundernd zu ihm aufblickten, sowie insbesondere freiem Zugang zu jeder Menge Büchern und immer neuen Anregungen. Wahrscheinlich wäre er nie so tief gesunken, den Wert seiner geliebten Bücher schließlich sogar höher einzuschätzen als den eines Menschenlebens.

So aber erfüllt Tinius den großen Wunsch seiner Eltern und wird Pastor in Heinrichs. Ab diesem Zeitpunkt werden seine Schilderungen merklich knapper. Nichts an seinem neuen Amt und seiner Gemeinde scheint ihn wirklich zu interessieren oder gar zu begeistern. Schon bald versucht er, sich in eine andere Gemeinde versetzen zu lassen, was aber zunächst nicht klappt. "Ich sollte hier bleiben und erst viel leiden, vielleicht um dereinst, sey es hier oder dort, in meine Herrlichkeit einzugehen."
Worin dieses "leiden" genau besteht, dazu kein Wort von ihm. Allerdings hat er sich innerlich inzwischen offenbar völlig von seiner Gemeinde zurückgezogen, lediglich über sein Privatleben berichtet er noch.
"Da ich vorher beschlossen hatte, im ledigen Stande zu bleiben, so legte mir jetzt mein geistliches Amt, aus Gründen, die dem Erfahrnen bekannt sind, die Verbindlichkeit des ehelichen Lebens auf." So begibt er sich auf Brautschau, und schon bald trifft er seine Wahl. Eine Frau, die er noch aus seiner Zeit in Luckau kennt und die inzwischen einigermaßen wohlhabend verwitwet ist, "jene gute Tochter, Johanna Sophia ist ihr verklärter Name, die ihre Mutter in Luckau beredet hatte, mich frei in ihr Haus aufzunehmen, und wo ich neun Jahre lang so unaussprechlich viel Gutes genossen hatte."

An seiner Beteuerung "Wir wählten uns aus wahrer Liebe" können einem allerdings Zweifel kommen: "Eine so zart fühlende, fein erzogene, christlich gesinnte gute Frau habe ich fast nirgends angetroffen. Immer unzufrieden mit ihrer Würdigkeit vor Gott und Menschen, mußte sie der Gnade des Herrn und der Liebe der Menschen täglich würdiger werden." Mit diesen warmen Worten beschreibt Tinius nicht etwa seine Braut, dies ist die Dame eines der Häuser, in denen er als Privatlehrer beschäftigt war. Über seine zukünftige Ehefrau hingegen sagt er lediglich "Ich kannte ihren Verstand, ihr Herz, ihre Geschicklichkeit und ihre Tugend aus neunjähriger Erfahrung." Klingt im Vergleich miteinander nicht ganz nach der wahren, großen Liebe seines Lebens.

Wie auch immer, die Hochzeit findet statt am 26. September 1798. Aber nur knapp 2 Jahre später, am 19. August 1800, stirbt seine Frau im Alter von 39 Jahren wenige Wochen nach der Geburt ihres ersten Kindes.
In seiner neuen Rolle als trauernder Witwer kann Tinius wohl nicht so ganz überzeugen, denn er fühlt sich zu einer Rechtfertigung genötigt: "Der wahrhaft Leidende leidet mehr innerlich, als äußerlich; so auch ich; und wann ich das Pfand ihrer Liebe sehe - so erblicke ich in diesem Abglanz ihres Lichts das Denkmal und die Inschrift ihres Todes."
Dass er sich nur kurze Zeit nach dem Tod seiner Frau auf die Suche nach einer neuen Ehefrau begibt, dient also nur dem Wohl seiner kleinen Tochter. "Ein solches theures Kind verdiente eine zärtliche, mütterliche Pflege von einer Frau mit gutem Herzen. Dazu wählte ich meine zweite Gattin den 25. Oct. 1801., Ottilia Maria, geborne Kindt, verwitwete Oberförsterin Hellmerich, aus Zella, die mir drei Söhne, geb. Hellmeriche, mitgebracht hat, und ich habe meine Absicht vollkommen erreicht, meine theure Tochter, Christiana Auguste Henriette, gedeiht, wie eine schöne Pflanze, unter der Hand der besten Mutter, die dafür von jener verklärten einst den Dank der Liebe empfangen wird." Von seiner eigenen Liebe oder auch nur Zuneigung zu seiner zweiten Frau ist nicht die Rede, Tinius hat sie wirklich nur aus Berechnung geheiratet, und er versucht gar nicht erst, dies zu beschönigen. Zwar will er den Eindruck erwecken, er hätte dabei doch nur an sein Mädchen gedacht. Aber seine Wahl wäre wohl nicht auf gerade diese Frau gefallen, wenn sie nur die "beste Mutter", nicht aber wohlhabend gewesen wäre.

Hier endet Tinius' Autobiographie - also Jahre vor der Zeit, als er zum Verbrecher geworden sein soll. Nur in seinem Nachwort geht er indirekt auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ein: "Solche Familiefreuden sind große Tröstungen in allerlei Anfechtungen, die meine Tage seit dem Anfange meiner Amtsführung allhier trübe gemacht haben. Rache und Neid sind als unversöhnliche Verfolger gegen mich aufgetreten. Daß es von Lebendigen keine Geschichte giebt, ist genug zu meiner Entschuldigung, wenn ich weder die Personen, noch die Beweggründe und nähern Verhältnisse zur Zeit öffentlich berühre. Die Nachwelt nach meinen Tode soll die Gemälde sehen, die ich jetzt male, aber noch nicht aufstelle. Die Farben werden gewiß lebhaft bleiben, und die Zeichnungen richtig seyn. An mir werden jetzt schon vieler Menschen Gedanken offenbar und fällen über sie selbst das Urtheil durch Wort und That. Und wie lange wird es noch seyn, so werden wir vor einem höhern Richter stehen, der alles, was im Finstern verborgen ist, wird an das Licht bringen und den Rath der Herzen offenbaren. Unterdessen harre ich geduldig meiner Rechtfertigung entgegen, und bin durch die fortwährende Gewöhnung an Verleumdungen und Neckereien fast ganz gefühllos dagegen geworden, wann ich besonders wahrnehme, daß meine Ehre durch den Druck immer fester, und die Schande der Bösen immer größer wird. Um Wohlthat willen leiden, erweckt in der That Gnade bei Gott und Menschen. Ich werde die Wahrheit Jesu Christi, die ich erkannt habe, als Streiter für meinen Herrn, vertheidigen bis an meinen Tod, und an jene Verheißung des scheidenden Greises denken: 'So wird Gott der Herr für Dich streiten.'"
Das also ist der Sinn und Zweck dieser ganzen 'Autobiographie': Es geht Tinius darum, seinen Ruf wieder herzustellen. Den Ruf des Ehrenmannes, Zeit seines Lebens viel zu gut und gläubig, als dass er zu den ihm zur Last gelegten Taten fähig sein könnte. Also Schande über alle, die diese Möglichkeit - Pfarrer Tinius ein Mörder und Dieb - auch nur in Betracht ziehen können. Dies schließt natürlich auch die weltlichen Richter mit ein. Gleichzeitig aber beruft er sich auf Gott als höchsten Richter, vor den er einst guten Gewissens wird treten können - im Gegensatz zu all den anderen, die ihn hier so verleugnen.
In diesen Schlussworten klingt Tinius tatsächlich überzeugend. Man möchte ihm seine Unschuld abnehmen, kommt ins Grübeln, ist er nicht vielleicht doch ein zu Unrecht Verfolgter?
Hätte er es bei dieser Abschlusserklärung belassen, er hätte sein Ziel der Ehrenrettung erreichen können. Aber da sind noch seine nebulösen Andeutungen, er habe die Gemälde gemalt, die er jetzt noch nicht enthüllen wolle, die aber spätestens nach seinem Tod den Fall für die Nachwelt erhellen würden.
Mit diesen Gemälden meinte er wohl seine - ausschließlich theologischen - Bücher, an denen er im Gefängnis so eifrig schrieb. Damit wollte er sagen: Wenn ich einst mein Werk vollendet und komplett veröffentlicht habe, muss die gesamte Menschheit, selbst meine Feinde und Anfechter, ja selbst der letzte Trottel erkennen, dass dieser aufrechte Kämpfer Gottes unmöglich ein Verbrecher sein kann. Bis dahin werde ich eben geduldig meiner "Rechtfertigung" entgegen harren, leiden "um Wohlthat willen", als Märtyrer in Sachen Gottes.

Doch was er dann tatsächlich veröffentlichte [6] , konnte diesem Anspruch nicht im mindesten gerecht werden, war nicht geeignet, das Bild zu ändern, dass sich alle Prozessbeteiligten während der beiden Verhandlungen von Tinius gemacht hatten. Es gab zahlreiche Indizien für seine Schuld, weder in den Prozessen gegen ihn noch irgendwann später sind Fakten aufgetaucht, die ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Verurteilung geweckt hätten.
So kommt der gesunde Menschenverstand heute zu dem gleichen Urteil wie die Richter damals: Auch wenn Tinius Zeit seines Lebens leugnete, sollen all die Indizien gegen ihn gefälscht sein, sollen alle Zeugen, die gegen ihn ausgesagt haben, die ihn ja zum Teil persönlich kannten und daher mit Sicherheit erkannt haben wollen, sich untereinander verschworen und vor Gericht die Unwahrheit gesagt haben? Und zu welchem Zweck, was hätten sie davon gehabt?
Nein, aller Wahrscheinlichkeit nach war Tinius tatsächlich schuldig, und für die Schwere der Schuld, die er insgesamt auf sich geladen hat, war die Strafe noch ausgesprochen milde. Aber er scheint - zumindest zeitweise - diese seine Schuld komplett verdrängt zu haben, ging beim Verfassen des Nachwortes seiner Biographie völlig in der Rolle auf, in der er sich gerne gesehen hätte, nämlich in der Rolle des unschuldig verfolgten Ehrenmannes. Und wenn er es denen, die ihn anders zu sehen wagten, schon nicht wirklich heimzahlen konnte, so versuchte er doch, jetzt seinerseits ihren Ruf öffentlich zu beschädigen, sie als gottlose Lügner hinzustellen.

 

3. 7. 2004
Petra Hannebauer

 

http://www.geschichte-verbrechen.de/tinius/tinius.html

 

Quellen: Paul Wiegler "Schicksale und Verbrechen", Ullstein-Verlag Berlin 1935

Johann Georg Tinius "Merkwürdiges und lehrreiches Leben des M. Johann Georg Tinius,
Pfarrer zu Poserna in der Inspektion Weißenfels, Von ihm selbst entworfen"
Mit einem Essay von Herbert Heckmann
Friedenauer Presse Berlin

 

[1] Louisdors waren ursprünglich französische Goldmünzen, die bald zu einer der Hauptgoldmünzen in ganz Europa wurden. Ihr Wert lag bei etwa 5 Talern.

[2] Pächter eines land- oder forstwirtschaftlichen Staatsguts, oft eines Musterguts

[3] Eine Art Mantel, eher ein Morgenmantel

[4] Ein besessen Forschender, Eingeweihter, Jünger, Meister, ... Besonders in Mysterien wie Zauberei und Alchimie

[5] Auslegung, Erklärung, Deutung, Interpretation von Texten

[6] Von Tinius veröffentlichte Schriften (neben seiner Autobiographie):
"Biblische Prüfung von Brenneckes Beweis: Daß Jesus nach seiner Auferstehung noch 27 Jahre auf Erden gelebt", erschienen 1820
"Der jüngste Tag, wie und wann er kommen wird. In physischer, politischer und theologischer Hinsicht aus der Bibel erklärt", 1836
"Sechs bedenkliche Vorboten einer großen Weltveränderung an Sonne und Erde sichtbar", 1837
"Die Offenbarung Johannis durch Einleuchtung, Übersetzung, Erklärung allen verständlich gemacht", 1839

 

 

Druckversion | Sitemap
© Förderverein St.Ulrich Heinrichs e.V.